Montag, 7. August 2023

Die Ratte

Die Ratte liegt in der Durchfahrt zum Hinterhof, nah an der Mauer, sie atmet noch, bewegt sich nicht, als ich näherkomme. Zwei Fliegen umkreisen sie. Dass im Keller Rattengift gestreut wurde, weiß ich, es hängen Zettel dazu aus, Kinder fernhalten und so weiter. Aus der Schrottecke im Hinterhof hole ich den Handkehrer. Ich nehme dich jetzt hoch, sage ich zur Ratte, schiebe sie mit dem Feger auf das Kehrblech, sie lässt sich leicht bewegen, geht selbst ein bisschen mit. Ich bringe dich jetzt ins Gebüsch, damit du da sterben kannst. Im Hinterhof-Urwald finde ich ein Plätzchen, wieder nah an der Mauer, lege sie ab, ich sehe ihre Augen, sie sieht müde aus. Wie mir als Kind eingetrichtert wurde, dass Tiere keine Gefühle haben, keine Freude, keine Traurigkeit empfinden, das sind alles nur Instinkte, Reflexe, der Rest: menschliche Projektion. Ich sehe die müden Augen der Ratte und denke, das stimmt doch nicht. Als ich am nächsten Tag nach der Ratte schaue, ist sie nicht mehr da.