Montag, 7. August 2023

Die Ratte

Die Ratte liegt in der Durchfahrt zum Hinterhof, nah an der Mauer, sie atmet noch, bewegt sich nicht, als ich näherkomme. Zwei Fliegen umkreisen sie. Dass im Keller Rattengift gestreut wurde, weiß ich, es hängen Zettel dazu aus, Kinder fernhalten und so weiter. Aus der Schrottecke im Hinterhof hole ich den Handkehrer. Ich nehme dich jetzt hoch, sage ich zur Ratte, schiebe sie mit dem Feger auf das Kehrblech, sie lässt sich leicht bewegen, geht selbst ein bisschen mit. Ich bringe dich jetzt ins Gebüsch, damit du da sterben kannst. Im Hinterhof-Urwald finde ich ein Plätzchen, wieder nah an der Mauer, lege sie ab, ich sehe ihre Augen, sie sieht müde aus. Wie mir als Kind eingetrichtert wurde, dass Tiere keine Gefühle haben, keine Freude, keine Traurigkeit empfinden, das sind alles nur Instinkte, Reflexe, der Rest: menschliche Projektion. Ich sehe die müden Augen der Ratte und denke, das stimmt doch nicht. Als ich am nächsten Tag nach der Ratte schaue, ist sie nicht mehr da.

Donnerstag, 20. April 2023

So einfach wie möglich, koste es, was es wolle

Das Beste an der Monica-Bonvicini-Schau in der Neuen Nationalgalerie sind eigentlich die sechs Museumswärter, oder sagt man Aufseher, die alle Besucher*innen ohne Ticket abfangen und daran hindern müssen, einfach weiterzugehen. Bitte erst nach unten zur Kasse! Überhaupt Museumswärter. Oder sagt man Aufseher. Dank ihnen fühlt man sich in jeder Ausstellung stets selbst wie ein Exponat. 

-Du hast mir vor vier Jahren ein Buch geschenkt, und ich bilde mir ein, das willst du zurück!, höre ich im Vorbeigehen eine Dame zu einer anderen Dame sagen. 
-Worum ging es denn in dem Buch? 
-Na um eine Familie in, ich weiß nicht, Norwegen oder Finnland. 
-Aber wenn ich dir das Buch geschenkt habe, will ich es nicht zurück.
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So einfach wie möglich, koste es, was es wolle, soll Mies van der Rohe mal gesagt haben, das Zitat findet sich gedruckt auf einen Kühlschrankmagneten im Museumsshop.

Samstag, 15. April 2023

Wie cool diese Frau war

Wie cool diese Frau war, die, heute früh mit ihrem Hund am Spielplatz vorbeigehend, gesehen hat, was die gelangweilte Jugend in der Nacht angestellt hatte: Alle Schaukeln so oft sich überschlagen lassen, bis die Seile ganz aufgedreht waren und die Sitzflächen oben unter dem Gerüst hingen, unerreichbar für jedes Kind, das schaukeln wollte, sogar für jeden Erwachsenen, der sich danach streckte. Die Frau ist einfach hochgeklettert aufs Gerüst, ihre Füße in den gelben Gummistiefeln an den Querbalken eingehakt und sich raufgeschwungen, akrobatisch sah das aus und lässig, und hat die Schaukeln wieder runtergeholt. Als würde sie das jeden Morgen so machen, und wer weiß, vielleicht macht sie das ja auch.

Freitag, 14. April 2023

Eine Drehtür

Mir geht nicht aus dem Kopf, was Félix Ayoh’Omidire in der Ausstellung 'un_endlich: Leben mit dem Tod' erzählt. Dass es, der Vorstellung der Yoruba zufolge, drei Ebenen der Existenz gibt: Da sind diejenigen, die jetzt am Leben sind; diejenigen, die das Leben durchlaufen haben und als tot gelten, und diejenigen, die darauf warten, dass ihr Leben beginnt. "So, it's like a revolving door." Leben und Tod und dann wieder Leben; eine Drehtür. Owl said: Death's a door / That love walks through / In and out, in and out / Back and forth, back and forth, wie einer meiner ewigen Ohrwürmer lautet. Und es ist wohl so, denke ich: Selbst wenn ich ein Zimmer für mich allein hätte, wäre ich in diesem Zimmer nie allein.

Donnerstag, 6. April 2023

Dieser vorsichtige,

Dieser vorsichtige, besorgte, fast schon bestürzte Gesichtsausdruck, mit dem zwei Menschen vor dem Café in ihre zu üppig belegten Bagel beißen, und natürlich quillt was raus und fällt was auf den Teller. "Einfach wieder eine Einheitspartei gründen!", ruft ein Versprengter über die Straße, zusammenhanglos. "Ein Zimmer frei für eine Frau", der Aushang im Schaufenster des Krimskramsladens. Am Himmel jetzt der Abendstern, die Venus.

Montag, 3. April 2023

Ich erinnere mich genau an M.

Ich erinnere mich genau an M., daran, wie sie geschminkt war auf Kostümparty, die F. mal veranstaltet hat, mit einem lilafarbenen Gesicht und comicfigurhaft riesigen, über den Lidern aufgemalten Augen, die einen anstarrten, wenn M. selbst die Augen niederschlug oder schloss; daran, dass sie einzwei Jahre später bei F.s Junggesellinnenabschied hochschwanger war und daran, dass F. und ich wiederum einzwei Jahre später nach einem gemeinsamen Ausstellungsbesuch mit M. an der Binnenalster saßen und sie, als ich sagte, ich hätte kein Kind, mit augenzwinkernder Bestimmtheit erwiderte: Noch nicht. Ich erinnere mich an all das, aber M., es ist ihr deutlich anzusehen, erinnert sich nicht an mich. Ach, du hattest auf der Kostümparty damals doch diese Augen, sage ich zu ihr, und sie lacht, eher überrascht als verlegen. Wir kommen im Trubel von F.s Geburtstagsfeier dann auch gar nicht dazu, uns weiter zu unterhalten. Aber dass es Menschen gibt, die anderen eher in Erinnerung bleiben, und solche, die eher andere in Erinnerung behalten, denke ich zwei Tage später unter der Dusche und verwerfe den Gedanken gleich wieder; etwas daran, dass das eine (Eindruck gemacht zu haben) mehr wert zu sein scheint als das andere (beeindruckt gewesen zu sein), geht mir gegen den Strich.